Dabei war alles ganz anders

Quelle: Beobachter / Käther Bänziger

Erinnerungen

Unser Gedächtnis bildet die Vergangenheit oft ziemlich falsch ab. Warum?

Wenn Marcel und Stefan von ihrer Kindheit erzählen, hört sich das an, als seien sie getrennt aufgewachsen. Die zwei Brüder haben völlig verschiedene Erinnerungen an die letzten Ferien vor der Trennung ihrer Eltern.

Stefan, damals elf, erzählt von einem ewig streitenden Vater und einer weinenden Mutter.

Marcel, damals neun, hat die Ferien hingegen in guter Erinnerung. Vom Streit der Eltern habe er nichts mitbekommen. Die Affäre des Vaters, die schliesslich zur Scheidung führte, sei erst später aufgeflogen.

Wir erschaffen uns unsere Geschichte

Das autobiografische Gedächtnis (siehe: so ist das Gedächtnis aufgebaut) hilft, uns in der Zukunft und in der Gegenwart zu orientieren, sagt der deutsche Psychologe und Gedächtnisforscher Hans J. Markowitsch. Es prägt die Persönlichkeit, formt die Identität und spiegelt die persönliche, subjektiv erlebte Lebensgeschichte.

Erinnerungen sind immer subjektiv, sagt die Walliseller Paar- und Familientherapeutin Doris Beerli. Jeder Mensch setzt andere Akzente und habe stets seine eigene Wahrnehmung.
Das schaffe gerade unter Geschwistern oft Missverständnisse. Jedes Kind hat seine eigene Rolle in der Familie. Und die Erinnerungen sind, abhängig von dieser Rolle, in die eigene Geschichte eingebettet. Die Tochter, die versucht, zwischen den streitenden Eltern zu vermitteln, nimmt diese Zeit anders wahr als der Bruder, der sich im Zimmer verschanzt.

Das eine Kind erlebt eine Erfahrung als prägend, das andere hat das Ereignis völlig aus dem Gedächtnis gestrichen.
Das Gedächtnis arbeitet nicht nur subjektiv, sondern auch sehr selektiv. Am liebsten merkt es sich schöne Erlebnisse, unangenehmes verdrängt es eher. Grund ist ein Selbstschutzmechanismus, sagt Markowitsch. „Mit schönen Erinnerungen lässt sich besser leben!“
So entsteht mit der Zeit ein Zerrbild der Wirklichkeit. Das liegt auch daran, dass wir Erinnerungen beim Erzählen jedes Mal etwas ausschmücken und sie zu einer gut erzählbaren Geschichte machen. Am Ende sind wir überzeugt, dass es sich genau so zugetragen hat. Das Gedächtnis, sagen Hirnforscher, ist aber nicht mit einem Computer zu vergleichen, der Daten auf einer Festplatte speichert. Viel eher entspricht es einer Wohnung, die immer wieder umgebaut und neu eingerichtet wird.
Emotionen spielen dabei eine wesentliche Rolle: Alles, was mit starken Gefühlen verbunden ist, prägt sich besonders gut ein. Deshalb erinnern sich viele genau daran, was sie taten, als sie vom Terroranschlag auf das Word Trade Center hörten – obwohl er mit ihrer persönlichen Lebensgeschichte wenig zu tun hat. Markowitsch nennt die Gefühle die „Wächter unserer Erinnerung“. Will man sich Erinnerungen einprägen, gelingt das besser, wenn man daran denkt, was man gefühlt hat.